Review< Zurück 18.11.2009

Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte

Von Max Werschitz

Während die internationale Politik trotz Finanz- und Wirtschaftskrise unfähig zu sein scheint auch nur grundlegendste Regulierungsmaßnahmen zu beschließen, die EU sich lieber um Präsidentschafts- und Aussenministerposten streitet als hiesige Steueroasen zu schließen und der österreichische Finanzminister frischfröhlich davon spricht dass "Leistung sich wieder lohnen muss" und unser Land "wie ein erfolgreiches Unternehmen" geführt werden soll holt der Paradedokumentarfilmer Michael Moore zu einem erstaunlich kompromisslosen Rundumschlag gegen das System aus - seit letzter Woche auch in heimischen Kinos.

Mit Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte (Capitalism: A Love Story) kehrt Michael Moore wieder zu jenen Wurzeln zurück die ihn im Jahr 1989 als den Hoffnungsträger des ernstzunehmenden Kino-Dokumentarfilms etabliert hatten. In Roger & Me war er bereits gierigen Konzernchefs, konkret Roger Smith von General Motors, mit Kamera und Mikrofon zu Leibe gerückt, und konfrontierte die amerikanische Öffentlichkeit mit den Auswüchsen des Turbokapitalismus anhand des Beispiels seiner Heimatstadt Flint, Michigan. 20 Jahre und drei Filme später richtet sich Moores erhobener Zeigefinger nicht mehr nur gegen einen Mann, und auf das Leid einer Stadt, nein: mit geballter Faust stellt er das Gesamtsystem Kapitalismus in Frage.

1, 2, 3… letzte Chance: noch nicht vorbei?

Seiner bewährten Methode, bekannt aus Bowling for Columbine, Fahrenheit 9/11 und Sicko, bleibt er dabei jedoch treu: er verleiht in weiten Teilen des Films den von Wirtschaftsbossen und Politikern oft recht nonchalant herumjonglierten Daten und Statistiken ein menschliches Antlitz. Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte zeigt Familien, die Opfer des Pyramidenspiels "Freie Marktwirtschaft" geworden sind und von Banken ohne Wimpernzucken auf die Straße gesetzt werden. Er zeigt überarbeitete Piloten die weniger als manche Supermarktangestellte verdienen und auf Essensmarken angewiesen sind. Er zeigt Witwer und Witwen die nach dem Tod ihrer Ehepartner erfahren müssen dass deren Firmen eine Lebensversicherung auf sie abgeschlossen hatten und Millionen kassieren während den wirklich Leidtragenden fast das Geld für ein ordentliches Begräbnis fehlt. Er zeigt Jugendliche die von einem korrupten Richter für lächerliche "Vergehen" monatelang in eine privat betriebene Besserungsanstalt gesperrt wurden damit diese fette Profite macht. Kurzum: der Film zeigt anhand von berührenden Schicksalen und Geschichten wozu es dank des kapitalistischen Wirtschafts- (oder sollten wir sagen Glaubens-)systems in den Vereinigten Staaten gekommen ist.

In einem zweiten Erzählstrang arbeitet Moore pointiert die Geschichte dieses Systems auf - beginnend mit Ronald Reagan, der als Lobbyistenmarionette eine großkonzernfreundliche Deregulierungs- und Privatisierungslawine losgetreten hatte, über die Regierungsmitglieder Clintons, Bushs und co die allesamt aus der Goldman Sachs Finanzhai-Kaderschmiede stammten bis hin zu jenen Wall Street-Mogulen die erst letztes Jahr das 700 Milliarden schwere amerikanische Bankenpaket in Rekordzeit durch den überrumpelten Kongress gepeitscht haben um, so Moore, in der von ihnen verursachten Krise noch flott und frech das "Familiensilber" mitgehen zu lassen. Der polemische Aktionismus, wie wir ihn unter anderem von der Konfrontation mit Charlton Heston in Bowling for Columbine kennen, hält sich dabei erstaunlich in Grenzen. Zwar "versucht" Moore demonstrativ mit einem Geldlaster die Steuermilliarden der Amerikaner von den Großbanken zurückzubekommen, und wickelt deren Marmorpaläste schließlich symbolisch mit einem 'Crime Scene'-Absperrband ein, dies macht jedoch nur einen kleinen Teil des Filmes aus. Zu meiner Überraschung verhaspelt sich Moore erfreulich wenig in die sonst so publikumstaugliche simplifizierte Sündenbocksuche und anlassgebundene Symptomberichterstattung, stattdessen konzentriert er sich weitgehend darauf ein eindrückliches Bild jener Welt zu zeichnen die vom kapitalistischen System und dessen Steigbügelhaltern erschaffen wurde.

Die dritte und ebenfalls maßgebliche inhaltliche Schiene des Films ist das Aufzeigen des Erfolges von Protestbewegungen und das Präsentieren von funktonierenden Gegenmodellen. Moore's Kamera begleitet dabei unter anderem ganze Dorfgemeinschaften bei der (Wieder)eroberung ihrer eigenen Häuser gegen den Widerstand von Versicherungshandlangern und Polizei, zeigt Arbeiter die tagelang ihre Fabrik besetzen um ihre Forderungen durchzusetzen und dabei von außen mit großzügigen Essensspenden solidarischer Mitbürger bedacht werden, oder beobachtet eine Firma die von allen Mitarbeitern gemeinsam als demokratische Kooperative geführt wird und - bei bis zu 60.000,- Dollar Jahreslohn für "einfache Fließbandarbeiter" - auch noch wirtschaftlich erfolgreich agiert. Und Moore scheut sich schließlich nicht das "S-Wort" in den Mund zu nehmen: Anhand einiger konkreter Vergleiche zeigt er dass der von so vielen Amerikanern unreflektiert reflexartig abgelehnte Sozialismus sich nicht nur recht gut mit dem in den U.S.A. eigentlich sehr stark präsenten christlichen, sondern auch den so oft zitiert identitätsstiftenden Werten der Gründerväter verträgt.


"Capitalism is evil - and evil cannot be regulated"

Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte hat mich, obwohl ich ohnehin bekennender Michael Moore-Fan bin, positiv überrascht. Moore ist nicht in die Falle getappt sich so wie viele andere in letzter Zeit im Fernsehen kursierende Dokumentationen und Reportagen ausschließlich über die jetzige Finanzkrise und deren Hauptschuldige zu agitieren. Stattdessen setzt der Film dort an wo er ansetzen sollte und auch muss: an der Wurzel des Übels, dem gewinnorientierten, systemimmanent menschenverachtenden Kapitalismus in seiner momentanen extremen Spielform, der praktisch ungezügelt "freien Marktwirtschaft". Im Grunde genommen hat Moore somit, für seine Verhältnisse, die "Mutter aller Dokus" geschaffen - falls er in ein, zwei Jahren eine weitere nachliefert frage ich mich ernsthaft welches Thema er aufarbeiten will dass im Vergleich dazu signifikant genug ist.

Und auch wir Kinobesucher sollten eine Falle unbedingt vermeiden: nach dem Konsumieren des Filmes wieder in eine tatenlose "Wird schon werden"-Apathie zu verfallen und unseren sogenannten Führungseliten zu vertrauen. Wir leben in einer Zeit in der sogar so mancher konservativer Skeptiker endlich erkannt haben sollte dass unser jetziges Wirtschafts-, ja unser gesamtes Wertesystem, ein unglücklicher Auswuchs der Geschichte mit Ablaufdatum ist und nicht die Spitze der menschlichen Entwicklung, geschweige denn ein unveränderliches Naturgesetz. Es wird Zeit aktiv zu werden - denn wir brauchen eine Revolution, und eine systemverändernde Revolution ist noch nie von politischen Parteien oder sonstigen Machthabern ausgegangen, sondern von uns, vom "normalen" Volk. Für die Vereinigten Staaten präsentiert Moore hier so etwas wie einen Aktionsplan, und viele seiner Vorschläge sind nicht nur radikal und visionär genug um eine Besserung zu bewirken, sie sind großteils auch auf den Rest der Welt anwendbar und sinnvoll. Für detailliertere Information zum Thema und weiteren Lösungsvorschlägen auch im europäischen Kontext empfehle ich Christian Felbers neuestes Buch Kooperation statt Konkurrenz: 10 Schritte aus der Krise.

 

Meine Wertung:
5 Kinomos